Wladimir Kaminer – „Zu Hause packt mich die Prokrastination“

Wladimir Kaminer – „Zu Hause packt mich die Prokrastination“

Waldimir Kaminer, 1967 geboren, möglicherweise in einem Schwimmbad, der offenen Schwimmanstalt „Moskau“, die er in einem Aquarium untergetaucht verlassen konnte. Unterwegs begegnete er stark behaarten Schnurrbartfischen, so weiß er zu berichten, und hat dabei vermutlich zum ersten Mal ausgiebig lachen müssen.

Die Mutter Lehrerin für Festigkeitslehre; der Vater Betriebswirt und stellvertretender Leiter in einem Betrieb der sowjetischen Binnenflotte. Von 1986 bis 1988 leistete Kaminer in einer Raketenstellung vor Moskau seinen Wehrdienst ab. In dieser Position erlebte er mit, wie im Mai 1987 der westdeutsche Privatpilot Mathias Rust in den sowjetischen Luftraum eindrang und anschließend auf der Großen Moskwa-Brücke nahe dem Roten Platz landete. Folgerichtig absolvierte er eine Ausbildung zum Toningenieur für Theater und Rundfunk und studierte anschließend Dramaturgie am Moskauer Theaterinstitut. Nebenher fing er an zu schreiben, anfangs auf Russisch, später auf Deutsch. Zu der Zeit verdiente er seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsjobs und veranstaltete schon damals Partys und Untergrundkonzerte in der Moskauer Rockszene.

Im Jahre 1990 übte die Stadt Berlin ihre Anziehungskraft aus. Für gerade mal 96 Rubel reiste Wladimir Kaminer in Ostberlin ein, nachdem sein halber Bekanntenkreis aus Moskau auf Reisen „verschwunden“ war. Nach der Grenzöffnung erhielt er als jüdischer „Kontingentflüchtling“ eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Kaminer war sowjetischer Bürger jüdischer Abstammung und ist heute deutscher Staatsbürger.

Der Durchbruch in Deutschland gelang ihm mit „Russendisko“.

Regelmäßig veröffentlicht er Texte in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften und organisiert Veranstaltungen wie seine mittlerweile international berühmte „Russendisko“, die er im Kaffee Burger zusammen mit Yuriy Gurzhy betreut. Musikalisch präsentiert wird ein Mix aus alter und neuer russischer Popmusik und Underground.

Mit der gleichnamigen Erzählsammlung sowie zahlreichen weiteren Büchern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands. Alle seine Bücher gibt es als Hörbuch, von ihm selbst gelesen. Sein Siegeszug durch die Bestsellerlisten hält auch nach mehr als 20 Jahren und 30 Büchern weiter an.

Viele Jahre war Kaminer Mitglied der „Reformbühne Heim & Welt“, auf der er wöchentlich im besagten Kaffee Burger seine neuesten Geschichten vorlas. Er hatte eine wöchentliche Sendung namens Wladimirs Welt beim SFB 4 Radio Multikulti sowie eine lose gesendete Rubrik im ZDF-Morgenmagazin. Für die Kinozeitschrift epd Film bespielt Kaminer seit 2014 jeden Monat die Kolumne Kaminers Kino. Er ist Mitgründer des PEN Berlin.

Der überzeugte Großstadt-Mensch und Hauptstädter gehört zu der Sorte Autor, die auch auf der Bühne überzeugen. Die Mischung aus familiärer Atmosphäre und seinem perfiden, manchmal sogar lakonischen, aber immer hochfeinen Humor sorgt für einzigartige Abende. Stets in Interaktion mit dem Publikum wird uferlos gelacht.

Wie gewohnt zeichnet sich auch Kaminers neustes und letztes Werk aus der Corona-Triologie „Wie sage ich es meiner Mutter?“ vor allem durch die leidenschaftliche Sprache und die detailreichen Beobachtungen aus. Zugespitzt, humorvoll und zugleich erfrischend nimmt Kaminer nicht nur den Virus ins Visier. Mögen die Geschichten im ersten Moment kurzweilig wirken, so sind sie am Ende weit mehr. Aus den Lach- und Sachgeschichten von Wladimir Kaminer werden kleine Lebenshelfer, die uns aufzeigen, dass der Alltag selbst in Corona-Zeiten nicht nur grau und trist ist. Der feine Humor wird zur Hilfe, um die alltägliche Tristesse zu durchbrechen. Und am Ende schafft es Wladimir Kaminer einmal mehr, dass wir sogar über uns selbst lachen.

Kaminer lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg.

Die Schnurrbartfische sind nach Kanada ausgewandert.

Quellen: Pressematerial Kaminer, wikipedia.de, www.wladimirkaminer.de

Herr Kaminer,

in Ihrem aktuellen Buch „Wie sage ich es meiner Mutter – Die neue Welt erklärt: von Gendersternchen bis Bio-Siegel“ erzählen Sie unter anderem von einem Urlaub mit Ihrer Mutter an der Ostsee und beschreiben humorvoll die Grimmigkeit der Ostsee-Anrainer. Aber eigentlich mögen Sie die Ostsee, oder?

Natürlich, sonst würde ich nicht immer wieder dorthin fahren, das war ein liebevoller Blick auf die Menschen an der Ostsee. Sie sind nicht so emotional aufgeladen wie Rheinländer, die den Karneval feiern, eher so wie meine Mutter und ich, sture Russen.

Ihr Buch dreht sich um eine Art humorvolle Vermittlung zwischen den Generationen – zwischen Ihrer 90-jährigen Mutter und deren Enkeln, die in den Zwanzigern sind. Wie sind Sie zu dem Thema gekommen?

Die Missverständnisse zwischen den Generationen sind mein Lieblingsthema. In solchen Gesprächen kann man das Konstrukt der Zukunft erkennen. Ich bin froh, dass es mir gelungen ist, zwischen der Seuche und dem Krieg ein so lustiges Buch zu schreiben.

Macht Ihre Mutter aus der Sicht ihrer Enkel in dieser neuen Welt denn alles falsch?

Mama lebt nach einem anderen Kanon. Meine Kinder wollen sie ständig umerziehen. In ihren Augen ist sie eine Umweltsünderin, und das wollen sie ändern.

Auch jüngere Menschen haben Probleme mit Gendersternchen, Bio-Siegeln oder wollen ihre lang ersehnte Flugreise wegen der Klimakrise nicht absagen. Würden Sie denen ebenfalls Ihr Buch empfehlen?

Das Buch haben schon Freunde von meinen Kindern gelesen, das hat mich gefreut. Ich denke, dass es alle Altersgruppen anspricht.

Sie sind in Deutschland unter anderem durch Ihren Erzählband und das Album „Russendisko“ bekannt geworden. Wie wichtig ist Musik für Sie?

Jetzt ist schwieriger geworden mit Musik aus meiner Heimat. Russland führt einen Angriffskrieg, zerstört Häuser und tötet Frauen und Kinder. Deshalb hat niemand Lust, zu russischer Musik zu tanzen. Aber wir haben für „Russendisko“ schon immer auch ukrainische Musik verwendet und darauf konzentrieren wir uns jetzt. Aber grundsätzlich verstehe ich die magische Beziehung vieler Menschen zur Musik nicht. Mir gefallen Worte. Die Musik war für mich immer ein Mittel, um Menschen kennenzulernen.

Apropos Musik: Sie haben im letzten Deichkind-Musikvideo mitgespielt. Darin geht es um den Flug von Mathias Rust nach Moskau, der auf dem Roten Platz landen wollte. Zu dem Ereignis haben Sie eine besondere Beziehung.

Ich war tatsächlich zu der Zeit in der Armee. Meine Aufgabe war es, den Abwehrring von Moskau zu bewachen. Wir sollten das Flugzeug von Mathias Rust abschießen. Ich habe mich geweigert und bin stolz darauf. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mich gefreut habe, in dem Video mitzuspielen. Und es ist mir wichtig zu wissen, welche Musik junge Menschen hören.

Sie sind regelmäßig Gast auf Kreuzfahrtschiffen, sprechen an der Sorbonne, reisen für Lesungen quer durch die Republik und sind häufig in Spanien. Packt das Reisefieber Sie trotzdem regelmäßig oder nervt das Unterwegssein Sie auch manchmal?

Ja, das packt mich immer wieder, ich bin gern auf Reisen. Genervt bin ich nicht, denn ich kann unterwegs gut Schreiben, etwa im Zug, wenn viele Menschen um mich herum sind. Zu Hause packt mich die Prokrastination: Dann schaue ich aus dem Fenster und sehe, dass ein Vogel auf dem Balkon ein Nest gebaut hat, ich sehe nach, welche Nachrichten ins Postfach eingelaufen sind oder denke, jetzt könnte ich auch ein Bier trinken. Ich schiebe das Schreiben auf.

Sie haben Ihr Geburtsland Russland mit 23 Jahren verlassen und sind 1990 in ein für Sie fremdes Land, die DDR, ausgewandert. Gibt es eigentlich Orte, von denen Sie sagen, dass sie Heimat sind oder dass Sie gern dorthin zurückkommen?

Es kommt darauf an, wie man Heimat definiert. Wenn man sagt, es ist das Land, das ich liebe, dann habe ich meine Heimat noch nicht gefunden. Wenn man sagt, es dort, wo man geboren und sozialisiert wurde, dann ist das die Sowjetunion, ein Ort, den es nicht mehr gibt, aber deshalb ist es auch so amüsant darüber zu schreiben. Meine Wahlheimat ist Berlin, dort habe ich in den letzten Jahrzehnten viele Veränderungen mitbekommen.

Herr Kaminer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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